Stress ist eines jener wenigen Forschungsgebiete, das in vielen Fächern beheimatet ist. Selye (1982, S. 7) hat aus seiner medizinischen Perspektive bereits vor über 30 Jahren festgestellt “Nowadays, everyone seems to be talking about stress” und Lazarus und Folkman aus ihrer psychologischen Perspektive (1984, S. 1) schreiben “it is virtually impossible today to read extensively in any of the biological or social sciences without running into the term stress”. Großes öffentliches Interesse hat dabei insbesondere das Thema „Stress und Arbeit“. So fanden z.B. in letzter Zeit der “Stressreport 2012” der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin oder der „Gesundheitsreport 2014“ der DAK breite mediale Aufmerksamkeit. Insbesondere die rapide Zunahme der psychischen Belastungen und die damit verbundenen Ausfallzeiten (krankheitsbedingte Abwesenheit, Berufsunfähigkeit etc.) stehen dabei oft im Zentrum. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Im Jahr 2012 waren psychische Erkrankungen in Deutschland für mehr als 53 Millionen Krankheitstage verantwortlich und bereits über 40% der Frühverrentungen hatten psychische Ursachen. Nicht nur die Gesundheit und Lebensqualität der betroffenen Beschäftigten werden nachhaltig beeinträchtigt, auch der volkswirtschaftliche Schaden ist beträchtlich. Das statistische Bundesamt schätzt die Krankheitskosten von psychischen Erkrankungen auf knapp 29 Milliarden Euro. Inzwischen haben auch Politik und Interessenverbände erkannt, dass psychische Gesundheit in der Arbeitswelt kein Randthema ist. In einer gemeinsamen Erklärung betonten das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) im September 2013, dass die Förderung der psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt nicht nur eine ethische Frage ist, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Um lange Fehlzeiten zu vermeiden, ist es unabdingbar, mögliche Beeinträchtigungen durch arbeitsbedingte psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen und zu minimieren. Gerade vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, der eine immer geringer werdende Anzahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter und ein immer höheres Durchschnittsalter der Beschäftigten mit sich bringt, ist es wichtig, die Arbeitswelt so zu gestalten, dass Beschäftigte gesund, motiviert und leistungsfähig bis zum Rentenalter arbeiten können.
Der enormen praktischen Relevanz stehen aber immer noch theoretische Defizite gegenüber. In der Literatur ist schon mehrfach die Forderung aufgestellt worden, bei der Konzeption und der empirischen Analyse von Stress die zeitlichen Aspekte viel stärker zu berücksichtigen, als dies bisher geschehen ist (McGrath & Beehr, 1990). Ziel des Graduiertenkollegs zur Dynamik von Arbeitsbelastungen und Stress (DAS GK) ist, die Dynamik des arbeitsbezogenen Stressgeschehens in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe zu untersuchen. Die psychologischen Ansätze, die mit verbal formulierten Theorien und empirischen Methoden arbeiten, sollen dabei positiv von der sehr viel exakteren Modellbildung der Ökonomen profitieren. Umgekehrt können die ökonomischen Ansätze ergänzt werden um eine Vielzahl bislang unberücksichtigter Konzepte, die sich in der psychologischen Forschung als sehr fruchtbar erwiesen haben.
In den letzten Jahren ist die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der zeitlichen Aspekte bei der theoretischen und empirischen Analyse wieder neu aufgegriffen worden (Dormann & Van de Ven, 2014; Roe, 2008; Sonnentag, 2012; Sonnentag, Pundt, & Albrecht, 2014; vgl. auch Mitchell & James, 2001 sowie Völkle, Oud, Davidov, & Schmidt, 2012). Diese Forderung soll in dem DAS GK durch in vieler Hinsicht überlappende Forschungsvorhaben in Angriff genommen werden. Dabei werden besonders die folgenden zeitbezogenen Aspekte berücksichtigt:
- Dynamische Modellbildung und Modellprüfung: Quasi alle existierenden Stresstheorien gehen implizit von einer dynamischen Komponente aus, ohne diese aber genau zu beschreiben. Eine exakte, generelle Beschreibung des dynamischen Stressgeschehens soll durch stochastische Differentialgleichungen (AG Wälde) vorgenommen werden. Diese theoretische Beschreibung spiegelt sich in der dynamischen Analyse von zwischenmenschlichen Stressprozessen wider, die ebenfalls mit Hilfe stochastischer Differentialgleichungen vorgenommen wird, wobei ein Schwerpunkt auf der Bestimmung optimaler Zeitintervalle für Wiederholungsmessungen liegt (AG Dormann). Die implizite Berücksichtigung von Zeit wird ergänzt durch die explizite Modellierung (vgl. Völkle et al., 2012) in den AGn Hahn und Rigotti. In der AG Hahn soll der Verlauf von Erholungsprozessen mittels Latent Growth Modeling untersucht werden. In der AG Rigotti sollen mittels Latent Growth Mixture Modeling unterschiedliche Cluster von Stressoren- und Ressourcenverläufen identifiziert und nicht-lineare Prozesse beschrieben werden. Durch die gleichzeitige Entwicklung theoretischer Modelle und empirischer Analysen in parallelen Arbeitsgruppen kann ein signifikanter wissenschaftlicher Fortschritt für beide Perspektiven erwartet werden.
- Zeitliche Dynamik von Crossover-Prozessen: Die Dynamik des Stressgeschehens ist nicht allein auf intra-individuelle Prozesse beschränkt. Die einflussreichsten Stressmodelle (etwa von Bakker & Demerouti, 2007; Lazarus & Folkmann, 1984; Selye, 1982) beschränken sich aber auf solche intra-individuellen Prozesse. In der neueren Zeit sind in zunehmend mehr Forschungsarbeiten inter-individuelle Prozesse unter den Stichworten Crossover bzw. Übertragung betrachtet worden. Durch Crossover-Prozesse wird beschrieben, wie sich Stress von einem Individuum auf ein anderes überträgt. Diesen Crossover-Prozessen weisen mehrere Autoren mittlerweile eine wesentliche Bedeutung bei der Entstehung von Stress bzw. – im positiven Falle – bei der Bewältigung von Stress zu. Allerdings ist bislang kaum etwas über die zeitli-chen Charakteristika von Crossover-Prozessen bekannt. Zeitliche Aspekte von Crossover-Prozessen sollen in der AG Wälde mit Bezug zu Lebenspartnern theoretisch beschrieben werden. In der AG Hahn sollen positive Crossover-Prozesse im Sinne von Erholung empirisch bei Doppelverdienerpaaren untersucht werden. Crossover-Prozesse zwischen Vorgesetzten und Kollegen stehen in der AG Dormann im Mittelpunkt. Allen Arbeitsgruppen ist gemein, dass die zeitlichen Charakteristika der Übertragungsprozesse genauer analysiert werden sollen, um z.B. Aussagen über die Wirkungsdauer und mittel- und langfristige Wirkungsintensität machen zu können.
- Resilienz – Zeitabhängige Wechselwirkungen: Alle Arbeitsgruppen werden die zeitlichen Aspekte von Wechselwirkungen zwischen Stressoren und Ressourcen erforschen. Als Ressourcen betrachten dabei alle Arbeitsgruppen potentielle Resilienzfaktoren, die kurz-, mittel- und langfristige Beeinträchtigung verhindern oder abmildern können. Die AG Hahn fokussiert sich dabei insbesondere auf die Frage, welche Resilienzfaktoren Erholungsverläufe positiv beeinflussen können. Die AG Rigotti betrachtet Veränderungen von Resilienzfaktoren über die Zeit. Die AG Dormann betrachtet Resilienzfaktoren, die einen negativen Crossover zwischen Vorgesetzten und Kollegen abmildern. Die AG Wälde wird die Untersuchung von Resilienzfaktoren auf theoretischer Ebene durch deren Integration in stochastische Differentialgleichungsmodelle vornehmen. Da bislang quasi keine Beschreibung und Analyse der dynamischen Wirkung von psychologischen Resilienzfaktoren existieren, hat auch dieses gemeinsame Unterfangen das Poten-tial, einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Forschung zu leisten.
Literatur
Bakker, A. B., & Demerouti, E. (2007). The job demands-resources model: State of the art. Journal of Managerial Psychology, 22(3), 309–328.
Dormann, C. & Van de Ven, B. (2014). Timing in methods for studying psychosocial factors at work. In M. Dollard, A. Shimazu, R. B. Nordin, P. Brough & M. Tuckey (2014). Psychosocial factors at work in the Asia Pacific (pp. 89-116). New York: Springer.
Lazarus, R. S., & Folkman, S. (1984). Psychological stress and the coping process. New York: Springer.
McGrath, J. E. & Beehr, T. A. (1990). Some temporal issues in the conceptualization and measurement of stress. Stress Medicine, 6, 93-104.
Meijman, T. F., & Mulder, G. (1998). Psychological aspects of workload. In P. J. D. Drenth, H. Thierry & C. J. de Wolff (Eds.), Handbook of work and organizational psychology (Vol. 2, pp. 5-33). Hove, England: Psychology Press.
Mitchell, T., & James, L. (2001). Building better theory: time and the specification of when things happen. Academy of Management Review, 26(4), 530-47.
Roe, R.A. (2008). Time in applied psychology: Studying what happens rather than what is. The European Psychologist, 13(1), 37-52.
Selye, H. (1982). History and present status of the stress concept. In L. Goldberger and S. Breznitz, (eds.), Handbook of Stress: Theoretical and Clinical Aspects. New York: The Free Press.
Sonnentag, S. (2012). Time in organizational research: Catching up on a long neglected topic in order to improve theory. Organizational Psychology Review, 2, 361-368.
Sonnentag, S., Pundt, A., & Albrecht, A.-G. (2014). Temporal perspectives on job stress. In A. J. Shipp & Y. Fried (Eds.), Time and work, vol. 1: How time impacts individuals. Current issues in work and organizational psychology (pp. 111-140). New York, NY: Psychology Press.
Voelkle, M. C., Oud, J. H. L., Davidov, E., & Schmidt, P. (2012). A SEM approach to continuous time modeling of panel data: Relating authoritarism and anomia.Psychological Methods, 17, 176-192.